17 Apr Die Tage des Gavrilo Princips (Einführung)
Die Tage des Gavrilo Princips ist die Geschichte vom Aufstieg und Untergang einer Generation sehr junger Intellektueller in Bosnien-Herzegowina. Jahrhundertelang formte diese Region ein Vilayet (Provinz) des Osmanischen Reichs, bis der österreichische Kaiser 1878 de facto und 1908 de jure die Macht übernahm. Bosnien war für viele Österreicher und Ungaren in der Doppelmonarchie ein schwarzes Schaf in der Herde: Der ‚orientalische’ Balkan hielt seinen Einzug in Mitteleuropa.
Im Fin de Siecle erlebte Österreich-Ungarn eine stürmische kulturelle Entwicklung . Politisch näherte sich das Reich, das jahrhundertelang den deutschsprachigen Raum dominierte, zwar seinem Ende, in den großen Städten wie Prag, Budapest und Wien blühten jedoch die Künste und Wissenschaften. Slowenen, Kroaten, Österreicher, Ungaren, Ruthenen, Polen, Juden, Slowaken, Tschechen, Rumänen und viele andere Völker machten das Reich zu einem bunten kulturellen Schmelztiegel. Dieses Umfeld erwies such geeignete Inspirationsquelle für große Geister wie Gustav Klimt, Franz Kafka, Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein und viele andere. Doch auch Adolf Hitler besuchte in diesem Reich die Schule, in der provinziellen österreichischen Stadt Linz.
Der kulturelle Aufschwung war eine Folge des nationalen Aufbruchs in der Habsburger Doppelmonarchie und fungierte somit zugleich zusammenführend als auch spaltend. Nationalistische Dichter und Unruhestifter hatten es darauf abgesehen, die Mauern des alten Reiches mit Sticheleien zum Einsturz zu bringen. Dieser Prozess ging beschleunigt in dem von Österreich-Ungarn annektierten Bosnien vonstatten. Dort nahm das ‚das nationale Erwachen’ , hauptsächlich durch die religiöse Vielfalt der Bevölkerung, einen sehr komplexen und konfliktgeladenen Charakter an.
Dass die Probleme in der besagten Provinz auch von globalem Einfluss sein könnten, zeigte sich 1914, als der bosnisch-serbische Schüler Gavrilo Princip den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sofie während eines Staatsbesuchs in Sarajevo erschoss. Dieser zweifache Mord war der Auslöser des Ersten Weltkrieges, der einen Monat später ausbrach.
Etliche schrieben über den Mord von Sarajevo, zweifellos aufgrund der enormen Auswirkungen. Dieser gewaltige industrielle Krieg verwüstete nicht nur einen großen Teil der Zivilisation und Bevölkerung Europas, sondern auch das europäische Selbstbewusstsein. Der Krieg setzte ein Ende an das Osmanische, das Habsburgische, das Deutsche und das Russische Reich und hinterließ die Welt in Fassungslosigkeit darüber, wie es so weit hatte kommen können. Es erklärt sich von selbst, dass die Ursachen des Ersten Weltkrieges demnach auch ausführlich unter die Lupe genommen wurden.
Die Tage des Gavrilo Princips ist jedoch ausdrücklich eine Mikrogeschichte. Demnach ist dieses Buch keine Vervollständigung der Geschichtsschreibung über das Attentat oder den Ersten Weltkrieg. Vielmehr skizziert es das Bild von einem relativ kleinen Umfeld, in dem sich Schüler in der Stadt radikalisierten und sich zum bewaffneten Widerstand oder selbst zum Terror bekehrten. Das Paradox besteht darin, dass Princips Radikalismus wesentlich ein Resultat der Habsburger Kulturpolitik war: Er besuchte österreichische Schulen, las deutsche Bücher, zu welchen er andernfalls keinen Zugang gehabt hätte, und entwickelte sich langsam zu einem Mitglied der kulturellen Elite. Zugleich bot ihm diese neue Welt von Schmalspurbahnen, verrauchten Kunst-Cafés, elitären Gymnasien und gedruckter Poesie von Friedrich Schiller oder Oscar Wilde die Möglichkeit, eine eigene, internationalere Sichtweise auf die politische Situation in seiner Heimat zu entwickeln.
In diesem Buch behandele ich nacheinander die wichtigsten Elemente von Princips Weltanschauung. Die Reise durch die kurze Geschichte seines Lebens findet sowohl chronologisch als auch thematischstatt. Die ersten Einflüsse finden sich in der bäuerlichen Umgebung, in der er aufgewachsen ist: Die Familienverhältnisse, die agrarischen Machtverhältnisse und die ökonomische Struktur der türkischen Vorherrschaft, die erst kurz vor seiner Geburt endete. Über seine Ausbildung in Sarajevo, Begegnungen mit gleichgesinnten Altersgenossen, dem Nationalismus in Serbien und der Verlockung des russischen Terrors komme ich letztlich zum letzten Akt, der im Zeichen von Mord, Verurteilung und Einzelhaft bis zu seinem Tod 1918 steht. Dieses Buch ist also, abgesehen von einer kulturhistorischen Studie, auch eine kurze Chronik Princips Lebens. Oder genauer: die Chronik eines kurzen Lebens.
Dem sind noch einige Erläuterungen hinzuzufügen. Es ist zwar kein eisernes Gesetz, doch in der Praxis läuft es daraus hinaus, dass eine Biographie alle Phasen eines Lebens behandelt. Zunächst die Jahre der Kindheit, die ausschlaggebend für die Charakterbildung sein können. Dann folgt eine Periode der Adoleszenz, während der das Individuum Entscheidungen trifft, die wichtige Folgen für sein weiteres Leben mit sich bringen können. Der Mensch findet einen Partner und bekommt Kinder (und auch wenn das nicht der Fall ist, spielen diese Themen eine Rolle) und wird älter. Im Alter wird die Person oft milder und er/sie schaut hin und wieder verwundert oder sogar beschämt auf die Fehler zurück, die er/sie im Leben gemacht hat. Die Lebensphasen bilden das Gerüst einer Biographie.
Sicherlich im Fall einer Jugendsünde – in diesem Fall einer gar erheblichen Sünde, nämlich einem Mord – kann erwachsene Reflektion zu interessanten Einsichten führen. Die Lebensphasen von Princip beschränken sich jedoch auf Geburt, Kindheit und Adoleszenz. Dann endet es.. Für einige der oben erwähnten Einsichten starb er zu früh. Da sein Leben zudem wenige nennenswerte Ereignisse enthielt ist es unmöglich, eine vollständige Biographie von Gavrilo Princip zu schreiben,. Dennoch darf der Fakt, dass sein Leben kurz war, kein Grund sein, ihm keine biographische Studie zu widmen. Tagtäglich sterben Menschen zu früh: schwache Neugeborene, kranke Kinder oder Verkehrsteilnehmer. Junge Menschen bestimmen den Lauf der Geschichte mindestens ebenso sehr wie Erwachsene.
Wie im Fall der Morde an Kennedy, Sadat, Fortuyn und anderen politischen Hauptakteuren ist auch der Mord an Franz Ferdinand von Rätseln umringt. Eine Studie nach Princip als Mörder und vor allem ‚Urheber’ des Krieges ist darum ein mühsamer Prozess. Als niederländischer Historiker habe ich mit allen bosnischen, serbischen, jugoslawischen, deutschen, österreichischen und russischen Verschwörungstheorien – eine alberner, bezaubernder und unglaubwürdiger als die andere – gerungen. Manche Leser muss ich darum nun schon enttäuschen: Dieses Buch bietet nicht den Schlüssel zu einem (oder ‚dem’) Komplott von Sarajevo und es gibt auch bewusst keine Antwort auf die Frage, wer die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs trägt. Denjenigen, der sich hierfür interessieren, verweise ich gerne auf eine Bibliothek von Büchern, die adäquatere Antworten zu diesem Thema parat haben.
Mit dem Schreiben von Die Tage des Gavrilo Princips habe ich versucht, den Schützen von Sarajevo von all den apokryphen Bedeutungen zu befreien, die ihm von Sozialisten, Faschisten, Nationalisten und Revisionisten auferlegt worden sind, und einen Einblick in die Probleme, Möglichkeiten, Ängste, Frustrationen und Leitbilder einer vielversprechenden jungen Generation verschaffen. Auf diese Weise hoffe ich einige Ursachen von Princips politischer Radikalisierung aufgedeckt zu haben. Dies ist sowohl eine Übung in historischer Vorstellungskraft als auch – auf allgemeinerem Niveau – eine Untersuchung nach den Entscheidungen eines frustrierten Individuums in einer größer werdenden, abstrakten, urbanen und modernen Gesellschaft. Gründe, derartige Studien fortzuführen, gibt es ausreichend. Schließlich ist Mord als politische Tat weiterhin ein aktuelles Thema und wird bis an das Ende der Zeit das ultimative Mittel für Radikale sein, ihren Idealen Ausdruck zu verleihen.