Prolog: Vier Pistolen, sechs Bomben (Die tage des Gavrilo Princips)

 

Am Nachmittag des 4. Juni 1914 trifft ein Zug aus Tuzla in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo ein. Unter den Passagieren befinden sich drei in dunkle, schmutzige Jacken gekleidete Schüler, die einander am Bahnhof schweigsam grüßen und sich zügig auf den Heimweg machen. Ihre Gesichter sind von Müdigkeit und Frustration geprägt. Es hat den Anschein, als hätten sie sich nichts mehr zu sagen.

Die Reise hatte acht Tage zuvor in Belgrad, der Hauptstadt des unabhängigen Nachbarlandes Serbien, begonnen und  sie über Ländereien geführt, durch Berge, Wälder und Sümpfe und entlang etlicher Flüsse und Städte. Einen Teil der Wanderung hatten sie   in tiefschwarzer Nacht zurückgelegt, kämpfend um jeden Schritt, immer wieder knietief in Pfützen versinkend während ihnen Äste ins Gesicht schlugen.

Der erste Junge war Nedeljko Čabrinović, ein Schriftsetzer  bosnischer Herkunft. Er war von hagerer Gestalt und trug einen dünnen Schnurrbart. Als Stadtjunge ließ er sich schon im jungen Alter durch internationale ‚städtische’ Ideologien wie den Sozialismus und Anarchismus inspirieren. Erst vor kurzem hatte er auch den serbischen Nationalismus entdeckt, jedoch blieb er dem ‚Chauvinismus’ – wie er ihn bezeichnete – gegenüber misstrauisch. In seinem Kopf vermischte sich alles zu einem revolutionären Potpourri. Er lag ständig im Clinch mit seinem Vater, einem Kneipenwirt in Sarajevo, der –zum großen Ärgernis seines Sohnes– auf gutem Fuß mit der österreichischen Obrigkeit in Bosnien stand.

Der zweite Junge war Trifko Grabež,  Sohn eines Priesters aus Pale, einem Dorf östlich von Sarajevo. Wie Čabrinović war auch Grabež Bosnier. Er hatte Schulen in Tuzla wie auch in Sarajevo besucht, bevor er wegen der stets zunehmenden Unterdrückung durch die österreichische Polizei nach Serbien ausgewichen, wo er in Belgrad das Erste Gymnasium besuchte.

Sein Schulkamerad dort war Gavrilo Princip, der dritte Junge – ebenfalls  Bosnier. Er war von kleiner, drahtiger Gestalt und trug einen zerknitterten Mantel über seinem dürren Leib. Princip trug sein Haar recht lang und ließ sich abwechselnd einen Bart und einen Schnurrbart wachsen. In der Regel machte er einen kränklichen Eindruck; seine Haut war bleich, seine Augen eingefallen und er wurde von einem schmerzhaften, feuchten Husten geplagt. Er war im Vergleich zu beispielsweise Čabrinović eher ein Junge vom Lande. Princips Vater war vorrangig Bauer, diente den österreichischen Autoritäten aber auch als Postbote. Täglich zog der alte Princip mit Pferdegespann in die dalmatische Stadt Knin um dort die Post auszutragen.

Die drei Heranwachsenden – Söhne eines Kneipenwirtes, eines Priesters und eines Postboten – verband eine Vereinbarung: Sie würden den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand ermorden. Der Erzherzog und Neffe des betagten Kaisers Franz Josef war in ihren Augen ‚der Feind des slawischen Volkes’ und musste beseitigt werden. Er sollte in einigen Wochen nach Bosnien kommen, um an Militärmanövern teilzunehmen und auch die Stadt Sarajevo mit einem Besuch beehren. Das war ihr Stichtag: die drei würden ihn mit Bomben und Pistolen erwarten. Außerdem hatten sie sich Zyankali besorgt, um ihre ultimative Heldentat mit dem Freitod zu besiegeln.

In Belgrad hatte ihnen ein Veteran der Balkankriege die benötigten Hilfsmittel (vier Pistolen, sechs Bomben) in die Hand gedrückt; die beschwerliche Ladung über die Grenze zu schmuggeln, lag jedoch in ihrer Verantwortung. . Der Einfluss des betreffenden Majors war weitreichend, denn auf ihrem Weg durch die Wälder und Felder hatten sie auf verschiedenste Weise Hilfe bekommen von zwielichtigen, korrupten Grenzwächtern, gutgläubigen Bauern und sonderbaren, fragwürdigen ‚Mittelsmännern’, welche mehr oder weniger in den Plan eingeweiht waren. Zum Ermittlungsrichter sagte Princip in einer späteren Befragung, dass er diese Reise als ‚mysteriös und geheimnisvoll’ empfinden habe.

Nachdem  sie einmal die bosnisch-serbische Grenze überquert hatten, liessen die drei den Sprengstoff  bei demEigentümer eines Filmtheaters in Tuzla mit dem Namen Miško Jovanović zurückgelassen. Da die bosnische Polizei wegen dem geplanten Besuch des österreichischen Thronfolgers zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen in Sarajevo getroffen hatte, sollten die Bomben zu einem späteren Zeitpunkt in die Hauptstadt geschmuggelt werden. Auf der letzten Etappe konnten die drei also aufatmen und beruhigt mit dem Zug weiterreisen. Die schwere Last lag in Tuzla.

  

 

 

 

 

 

 

 

Beim Eintreffen in Sarajevoam 4. Juni 1914 hätte das Ganze noch als Spiel durchgehen können. Sie konnten noch vorgeben, sie hätten sich in ihren eigenen Phantasien verannt. Die drei Jugendlichen hatten als lernbegierige Naseweise viel über russische Nihilisten und Anarchisten gelesen, die Bomben auf den Zar warfen. Ihre Inspiration holten sie sich größtenteils aus dem Buch Untergrund Russland von Autor und internationalem Berufsrevolutionär Stepniak, der über spektakuläre Fluchtmanöver, geheimnisvolle, verschlüsselte Briefe in Geheimsprache, Codes, Passwörter und andere Geheimnistuereien schrieb. Alle drei hatten dieses Handbuch für den modernen ‚Terroristen’ verschlungen. Sie lernten daraus, dass sie ‚nobel und fürchterlich’ sein mussten, um sich zur ‚sublimierten, menschlichen Größe von Märtyrern und Helden’ zu entwickeln. Nun war der Moment gekommen, um Worte in Taten umzusetzen.

Aber waren sie sich auch des Umfangs der mutmaßlichen Folgen ihres Vornehmens bewusst? Verglichen mit ihren Vorbildern aus Untergrund Russland waren sie blutige Amateure. Noch nie zuvor hatten sie einen Anschlag ausgeübt. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Polizei sie nicht schon  geraume Zeit im Visier hatte. Princips Name findet sich in verschiedenen Polizeireporten aus dem Jahr 1912; er war demnach schon lange vor dem Anschlag bei den Behörden bekannt. Ein vertrauliches Dokument vom 28. Dezember 1912 nennt seinen Namen auf einer Liste von Verdächtigen, denen besondere Beachtung im Zusammenhang mit der Staatssicherheit geschenkt werden müsse. 1912 hielt er sich  im Kriegsgebiet in Süd-Serbien und Mazedonien auf und könnte dort radikalisiert worden sein. Viel wusste die Polizei über das vom Radar verschwundene Problemkind allerdings nicht, denn hinter seinem Namen stand mit Bleistift vermerkt: ‚Wahrscheinlich Schüler’.

Und die anderen beiden? Auch sie hatten  einiges auf dem Kerbholz, jedoch nichts von dem Format, womit sie sich nun beschäftigten. Ein Gericht in Bosnien hatte Čabrinović 1912 wegen Sabotage einer Druckerei zur Verbannung aus Sarajevo verurteilt. Grabež verbrachte im selben Jahr vierzehn Tage im Zuchthaus, weil er einen Lehrer in der Schule mit der Faust zu Boden geschlagen hatte.

Jetzt wurde es allerdings ernst: Der österreichische Thronfolger durfte Sarajevo nicht lebendig verlassen. Damit sollte in erster Linie der österreichischen Regierung, die sie vom Balkan zu verjagen hofften, signalisiert werden, dass sie dort, ihrer Ansicht nach, nichts zu suchen hatte. Weiterhin erhofften sie sich mit dem Mord ein Chaos anzurichten, das  größere Entwicklungen, etwa eine Revolution oder einen nationalen Aufstand, gegebenen falls sogar einen Krieg, mit sich bringen würde. Hauptsächlich erhofften sie sich allerdings, Helden zu werden; Helden der Nation, der Jugend, des unterdrückten Volkes oder ihrer revolutionären Freunden. In seinem Buch beschrieb Stepniak ‚revolutionäre Profile’ von Menschen, die ihr Leben für den Kampf gegen Tyrannei gegeben hatten. Um auf diese Liste zu gelangen, mussten sie Mord mit Selbstmord kombinieren und mit Franz Ferdinand zugrunde gehen, als Aufopferung für etwas, das sie selbst als Freiheit bezeichneten.

In Sarajevo fand Čabrinović bei seiner Großmutter Unterschlupf, während Grabež nach Pale reiste, um sich dort – was auch sonst – für sein Studium auf eine Klausur vorzubereiten, und Princip besuchte ein Dorf weiter seinen Bruder, der kurz zuvor einen Sohn bekommen hatte.

Sie mussten die Zeit totschlagen. Es lagen noch vierundzwanzig Tage vor ihnen.